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LESEPROBEN

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PATIENT #211

Sie konnte ihn riechen. 

Er war hier.

Noch bevor Linda ganz erwacht war, wusste sie, dass jemand an ihrem Bett saß. Es roch nach Zigarre. Ihr Herz schlug schnell, als der Rauch durch ihre Nase eindrang, tief bis in ihre Lunge hinein und von dort direkt in das Angstzentrum ihres Gehirns, die Amygdala. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Instinktiv wusste Linda, dass es der Rauch einer Romeo y Juliet war. Das war seine Lieblingsmarke gewesen.

„Benjamin?“, wollte sie fragen.

Doch nur ein dumpfes Stöhnen kam aus ihrem Mund.

„Es tut mir leid“, wollte sie sagen, aber ihre Zunge gehorchte nicht.

Wieder einmal war sie in diesem quälenden Zustand zwischen Schlafen und Wachen gefangen, ein Durchgangsstadium, dem sie früher kaum Beachtung geschenkt hatte. Doch seit sie die Tabletten nahm, um überhaupt noch schlafen zu können, zog sich das Erwachen hin, manchmal bis zu einer Stunde, vielleicht waren es auch nur Minuten, sie konnte es nur schwer  einschätzen. Drei Melperon schluckte sie jeden Abend, drei kleine, weiße Tabletten mit gewaltiger Wirkung: Die Zeit wurde flüssig, Sekunden wurden zu Kaugummi und Minuten zu einer Ewigkeit, in der unheimliche Kreaturen erwachten. Klagend, flehend, schön oder hässlich waren diese Kreaturen – wie auf den Gemälden der surrealistischen Maler.

Linda hörte das Schlagen einer Turmuhr.

Wieder roch sie den Rauch einer Romeo y Juliet, der sich mit dem Geruch des Putzmittels vermischte.

Benjamin?

Sie träumte, eine Treppe nach oben zu steigen, die aus Knetmasse war und das Geräusch ihrer Schritte verschluckte. Köpfe tauchten aus der Masse auf, auch Schlangen, auf die sie treten musste. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass Benjamin oben an der Treppe auf sie wartete und lächelte; aber je näher sie kam, desto mehr löste er sich auf in einem gelblichen Nebel, der ihn umgab.

Warte! Benjamin! Ich muss mit dir reden.

Linda ging schneller. Ihre Beine rutschen unter ihr weg wie weichgekochte Spaghetti.

Warte!

Seit Linda in Marienberg war, musste sie dafür kämpfen, aufwachen zu können. Obwohl ihr Körper währenddessen ruhig im Bett lag, war die Prozedur für sie anstrengender als ein Zehnkilometerlauf. Wenn sie erwachte, war sie schweißgebadet. Wenn sie erwachte, wusste sie, dass ihr Unbewusstes mit dieser Knetmasse ein treffendes Bild für den chemisch herbeigeführten Schlaf gefunden hatte, der sie für ein paar Stunden die Hölle vergessen ließ, in der sie seit Monaten lebte.

Seit fünf Monaten, um genau zu sein.

Seit dem 8. März. Niemals würde sie diesen Tag vergessen, an dem ihr Mann tot auf dem Diwan in seinem Behandlungszimmer gelegen hatte.

Benjamin?

Wieder schlug die Turmuhr.

Und dann hörte sie dieses seltsame Geräusch. 

Bitte nicht.

Es war sein Atem. Langsam, sehr langsam sog er die Luft ein. Ein Röcheln folgte. Dann, einen quälenden Moment lang, passierte nichts. Er schien die Luft anzuhalten. Stille trat ein, jene Stille, die unheilvoll war wie der Moment, in dem sich alles veränderte – aber nicht zum Guten.

O Gott, Benjamin, ich habe dich geliebt, bitte glaub mir das!

Endlich atmete er wieder aus. Sie hörte ein langgezogenes Zischen, mit dem die angestaute Luft entwich. Doch ihre Erleichterung hielt nicht lange an. Denn im selben Moment, in dem er ausatmete, traf ein Hauch auf ihren Hals. Linda erstarrte. Dieser Atem war böse, auf eine erotische Weise böse, als säße ein Fremder an ihrem Bett, der Benjamins Körper nur als Versteck benutzte.

„Linda“, flüsterte er.

Nein! Lass mich!

Sein Atem war ganz nah an ihrem Ohr. Und dort flüsterte er beinahe zärtlich: „Linda.“

Lindas Nackenhaare stellten sich auf. Sie fühlte die feinen Härchen überdeutlich, jedes einzelne Härchen richtete sich auf, zuerst in ihrem Nacken, dann auf ihren Armen und zuletzt auf der Innenseite ihrer Schenkel. Sie erschauderte.

„Gefällt dir das?“

Nein! Geh weg. Lass mich!

Der Mann, der an ihrem Bett saß, war Benjamin. Das war seine Stimme. Sie bildete sich das nicht ein.

„Linda“, hauchte er. Er sagte: „Meine Linda.“

Doch etwas an seiner Stimme war anders. Nur was? Was? Linda wusste, dass Benjamin tot war, selbst im Halbschlaf wusste sie das, aber der Mann, der an ihrem Bett saß, roch nach seiner Zigarre und nach seinem Aftershave, Taylor of Old Bond Street. Das war eindeutig der Geruch des Mannes, mit dem sie fast zwanzig Jahre verheiratet gewesen war.

Wieder schlug die Turmuhr.

Wieder seine Stimme: „Linda.“

Benjamin?

Diesmal kam bereits ein Lallen aus ihrem Mund. Lindas Beine zitterten, als sie versuchte, sich aufzurichten. Gleich hast du es geschafft! Ihre Augenlider begannen zu zucken, die Decke zur realen Welt wurde dünner.

„Linda“, flüsterte er und schob eine Hand unter ihr T-Shirt. Sein Daumen glitt über ihre Brustwarze. 

Was tust du? Lass das.

Linda fühlte seinen Pullover auf ihrer Haut, 80 Prozent Kaschmir, 20 Prozent Baumwolle. Sie selbst hatte Benjamin diesen Pullover geschenkt. Der weiche Stoff verursachte ihr eine Gänsehaut, wieder richteten sich die Härchen auf ihrer Haut wie Tänzer auf. Nur dass es keine Tänzer waren, sondern Dämonen aus Goyas Höllenbildern, Schmerzen, Sehnsucht.

Oh Gott.

Etwas in ihr stöhnte auf, etwas, das sie weggesperrt hatte, um zu überleben. Sie wünschte sich so sehr, dass Benjamin es war, der sie berührte, und zugleich betete sie, dass er es nicht war.

Bitte, lieber Gott, lass das nur ein böser Traum sein.

Als er seine Hand nach oben wandern ließ, wusste sie, weshalb er gekommen war.

„Warum hast du mir das angetan?“, fragte er.

Im Traum stand Linda jetzt ganz oben an der Treppe – mitten in dem gelblichen Nebel – und bekam keine Luft mehr.

„Habe ich nicht immer gut für dich gesorgt?“, fragte er. Dann schlossen sich seine Finger um ihren Hals.

„Nein!“, schrie sie und … 

Plötzlich saß Linda aufrecht in ihrem Bett. Gierig rang sie nach Atem, keuchte, hustete und riss die Augen weit auf. Der Puls hämmerte in ihren Ohren. Das T-Shirt klebte an ihrem Körper, sie war nassgeschwitzt und verstört und blickte sich ängstlich um.

„Benjamin?“, fragte sie in die Dunkelheit hinein.

Sie lauschte.

Vom Park her fiel das milchige Licht der Gaslaternen ein. Die Rollläden blieben über Nacht oben, darum hatte sie gebeten. Linda starrte in das Halbdunkel hinein. Die Konturen des Zimmers nahmen langsam Gestalt an. Sie erkannte das Fenster, den Schreibtisch und die Stehlampe, sogar die einzelnen Glasstücke des Lampenschirms erkannte sie. Nur ihn erkannte sie nirgends.

„Ist da jemand?“, fragte sie.

Der Radiowecker auf ihrem Nachttisch zeigte 05:12 Uhr. Es war Sonntagmorgen, der 20. August, es war 05:12 Uhr, und sie war in der Klinik Marienberg. Linda wusste das, sie war nicht verrückt.

Zitternd schlang sie ihre Arme um den Oberkörper. Am liebsten wäre sie wieder in das große, dunkle Loch gefallen, das man Schlaf nannte. Doch sie  befahl sich: Bleib wach! Denk nach! Sie schnupperte. Das war doch Rauch, der sich in den allgegenwärtigen Geruch des Desinfektionsmittels mischte, oder nicht? Die Tür war geschlossen. Linda blickte sich um. Wenn er also wirklich hier gewesen war, dann müsste er jetzt noch hier sein.

„Ist da jemand?“, fragte sie wieder.

Ein großer, dunkler Schatten wanderte über ihre Bettdecke. Das war nur das Fensterkreuz, das im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos wanderte, sagte sie sich.

Aber im Park fuhren keine Autos.

Linda sah sich um. Im Zimmer gab es nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken: nur unter dem Bett, im Schrank oder hinter dem Paravent.

„Benjamin?“, fragte sie wieder.

Etwas knarzte.

Linda blickte zum Schrank hinüber. Es war ein großer, moderner Einbauschrank, in dem ein erwachsener Mann locker Platz gefunden hätte. Die rechte Schiebetür stand offen. Linda starrte auf den dunklen Spalt. Etwas blitzte hervor. Waren das Augen? Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Taschenlampe, die sie für solche Fälle im Nachttisch bereithielt. Sie knipste sie an. Gespenstisch huschte der Strahl durch das Zimmer.

„Wer ist da?“, fragte sie und richtete die Taschenlampe auf den Schrank.

Es war nur ihr Gürtel mit der silbernen Schnalle. Linda lachte, aber ihr Lachen klang seltsam.

In diesem Moment raschelte es hinter dem Paravent.

„Benjamin?“, fragte sie und richtete die Taschenlampe auf den Raumteiler. Bei Tag erinnerte sie der Paravent mit dem Blumenmuster an glückliche Zeiten. Es war ihr eigener Paravent, den sie mit in die Klinik genommen hatte. Jetzt wirkte das Gestänge aus schwarzem Metall wie ein Skelett. Linda ließ den Strahl tiefer wandern. Zwischen dem Paravent und dem Fußboden war ein Spalt von etwa fünfzehn Zentimetern.

Ihre Hand zitterte.

Sie erkannte keine Schuhe.

„Du hast geträumt“, sagte sie laut zu sich selbst. Und dann: „Benjamin ist tot.“

Der 8. März war eigentlich ein ganz normaler Mittwoch gewesen. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können.

„Benjamin“, flüsterte sie und spürte Tränen in ihren Augen. Sie ließ den Arm mit der Taschenlampe sinken und starrte auf den Lichtkegel, der auf das Parkett fiel.

An jenem Mittwoch war Linda den ganzen Tag über im Atelier gewesen. Das Atelier lag knapp zwei Kilometer von ihrem Haus entfernt in einer ehemaligen Scheune. Zweimal die Woche, immer mittwochs und freitags, hatte Benjamin Privatpatienten zu Hause. Deshalb blieb Linda an diesen beiden Tagen länger als sonst im Atelier. Sie mochte es nicht, wenn Patienten bei ihnen zu Hause waren.

Der Lichtkegel verschwamm vor ihren Augen.

Nein, es gab keine Zeugen, die sie im Atelier gesehen hatten.

Linda fror.

Erst gegen halb acht war sie nach Hause gekommen. Nein, sie hatte sich nicht gewundert, dass ihr Mann nicht im Wohnzimmer gewesen war und auch nicht in der Küche. Und nein, sie hatte nicht sofort nach ihm gesehen. Erst als er gegen acht immer noch nicht auftauchte, war sie in sein Zimmer gegangen.

Ihre Zähne begannen zu klappern.

Linda betrat das Büro. Sie öffnete die Tür. Seit dem 8. März öffnete sie immer wieder diese schwere, lederbespannte Tür, die zu Benjamins Allerheiligstem führte, in sein Behandlungszimmer. Das Behandlungszimmer eines Psychoanalytikers. Und da lag er: auf seiner Couch, blutüberströmt. Diesen Anblick würde sie nie mehr vergessen. Ebenso wie den Klang der Stimme ihrer Tochter Delphine, als sie gefragt hatte: „Mama?“

Nur deshalb war Linda froh, auf Marienberg zu sein, wegen Delphine. Es tat gut, wenn ihre Tochter an ihrem Bett saß und ihre Hand hielt.

Ein kalter Hauch streifte Lindas Hals.

Linda wischte sich die Tränen ab und richtete die Taschenlampe zum Fenster hinüber. Konnte das sein? Erst jetzt bemerkte sie, dass das Fenster offenstand.

Niemand durfte das Fenster öffnen.

Zu ihrer eigenen Sicherheit.

Linda drückte die Klingel über ihrem Bett. Dann stand sie auf. Ihre Beine waren schwach. Sie zitterte, aber sie musste es nur noch bis zum Fenster schaffen. Hinter ihr knarzte es, doch sie drehte sich nicht um. Benjamin war tot. Es gab keine Gespenster! Linda ballte die Hand zur Faust. Wie naiv war sie doch gewesen, zu glauben, dass ihr der Gerichtsprozess das zurückgeben würde, was man ihr genommen hatte: 

Ihre Würde.

Ihr Zuhause.

Ihr Kind.

Doch das Letzte, was sie ihr nehmen wollten, würden sie nicht bekommen: Ihren Verstand.

Wieder knarzte es.

Nein, sie war nicht verrückt.

Zumindest hatte sie das geglaubt – bis zu diesem Augenblick, in dem sie sich doch umdrehte.

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PENELOPES TOD

„Sie liebte ihn […]. Sie war zu allem bereit – und das war ihr Tod.“

Agatha Christie, Das Schicksal in Person


1

Es war der 6. Februar, ein Montag. Diesen Tag werde ich wohl niemals vergessen. Es war der letzte schöne Tag in meinem Leben. 

„Penny“, rief Chris. „Komm doch rein!“ 

Wenn ich heute meine Augen schließe, sehe ich Chris, wie er mir aus dem Wasser zuwinkt, bevor er untertaucht. Ich sehe sein Lächeln und seine rote Badehose, die unter der Oberfläche zu zerfließen scheinen. Ich höre wieder seine Stimme: 

„Penny! Nun mach schon! Komm rein!“

Der Himmel war blau, die Sonne schien, und das Meer gab einem die Illusion, frei zu sein. Wir ankerten vor Petite Asjombra, einer kleinen, unbewohnten Insel in der Karibik. Der Name war ein Mix, wie vieles in der Karibik, in dem das spanische Wort asjombra steckte: das Erstaunen. Denn die Insel war auf der einen Seite sanft und zugänglich – es gab dort eine Bucht mit weißem Sand, funkelndem Wasser und sich wiegenden Palmen, die zu den schönsten auf den Kleinen Antillen zählte. Auf der anderen Seite war sie tödlich. Eine Steilküste aus schwarzem Vulkangestein türmte sich dreißig Meter in die Höhe. Es hieß, früher hätten die Piraten hier ihre Gefangenen in den Tod geschickt.

„Das Wasser ist ganz warm“, hörte ich Chris wieder. 

„Später“, rief ich und gähnte. Ich hatte es mir in der Trampolinfläche am Bug bequem gemacht und döste vor mich hin. Unser Katamaran lag ruhig im Wasser, es war elf Uhr vormittags, und die Wellen plätscherten gegen den Rumpf. 

Irgendwo schrie ein Vogel.

Ich war müde.

Am Tag zuvor war ich über fünfzehn Stunden unterwegs gewesen. Trotz der Zeitverschiebung war ich erst spät abends auf St. Barth gelandet. Die Insel konnte von Europa aus nicht direkt angeflogen werden, weil die Landebahn hinter einer Hügelkette lag, nur 640 Meter lang war und direkt im Meer endete. Also war ich von Zürich über Paris nach St. Martin geflogen, eine Nachbarinsel, auf der eine Boeing 747 eigentlich auch nicht landen konnte, es aber trotzdem tat. Deshalb gehörte der Princess Juliana International Airport auf St. Martin zu den gefährlichsten der Welt: Die Landebahn betrug nur 2180 Meter und begann unmittelbar hinter einem öffentlichen Strand. Es war jedes Mal ein Erlebnis, wenn so eine Boeing über die Köpfe der Badenden hinwegdonnerte. Die Piloten brauchten eine spezielle Lizenz, um dort landen zu dürfen, und die Flugbegleiterinnen gute Nerven. 

„Penny, rette mich!“

„Später“, rief ich, ohne nach Chris zu sehen. Ich war Flugbegleiterin, und ich hatte gute Nerven.

Von St. Martin nach St. Barth war es nur noch ein Katzensprung. Chris hatte mich mit der Cessna eines „Freundes“ abgeholt, wie er den Mann nannte, den ich noch am selben Abend kennenlernen sollte: Gerrit Huisman. Bis dahin wusste ich nur, dass er ein reicher Niederländer war, der ab und zu geschäftlich in der Karibik zu tun hatte. Das Übliche eben. Allein die Ehrfurcht, mit der Chris über seinen neuen Freund sprach, war ungewöhnlich. Heute weiß ich, dass es Angst war. 

Ein leichter Wind kam auf.

St. Barth galt als die Insel der Prominenten und Superreichen. Was er denn da wolle, hatte meine Schwester Sandra gefragt, als ich ihr von Chris’ neuestem Winterquartier erzählt hatte. Segeln, hatte ich geantwortet. Segeln könne man auch auf dem Bodensee, hatte sie gemeint.

Alles war ruhig. Nur das Wasser plätscherte. 

Meine Schwester war vier Jahre älter als ich und schon immer die Klügere gewesen. Sandra war Politikwissenschaftlerin an der Universität Konstanz und verbrachte ihre Urlaube meist in der Nähe des Bodensees. Als Wissenschaftlerin war sie in die Fußstapfen unserer Mutter getreten, die Gräzistik studiert hatte, bevor sie Hausfrau geworden war. Trotzdem hatte meine Mutter uns nie das Gefühl gegeben, wegen uns auf etwas verzichtet zu haben. Allein der Umstand, dass sie meine Schwester Kassandra und mich Penelope taufen ließ, gab mir zu denken. Manchmal kam es mir fast wie ein Protest gegen das schöne Leben vor, das sie doch geführt hatte. Als Kinder waren uns die Namen einfach nur peinlich gewesen. In dem oberschwäbischen Dorf, in dem wir aufgewachsen waren, hieß man damals Julia, Nadine oder Tanja. Für meine Schwester war es leicht gewesen, anstatt Kassandra nur Sandra genannt zu werden, zumal sie sich schon als Kleinkind geweigert hatte, die Vorsilbe Ka- auszusprechen. Mich retteten die Comics, die monatlich bei der Volksbank zu haben waren: Marc & Penny. Mein Spitzname erhielt dadurch eine gewisse Popularität, und bald wusste niemand mehr, wie ich wirklich hieß.

Heute frage ich mich, ob unsere Namen mich und meine Schwester nicht stärker prägten, als uns lieb war.

Kassandra, die stets das Unheil voraussah.

Penelope, die zehn Jahre auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet hatte. 

Die Sonne stieg immer höher. Obwohl ich im Schatten lag, wurde es langsam heiß. Doch die Hitze machte mir nichts aus, im Gegenteil, nach den langen, kalten Wintermonaten in Deutschland sehnte ich mich nach der Wärme.

Und nach Chris. 

Ich lauschte. Nur das Schreien der Vögel war zu hören.

Ich setzte mich auf. Mit der Hand schirmte ich meinen Blick gegen die Sonne ab, doch ich konnte ihn nirgends mehr entdecken. Irgendwo schlug ein Seil gegen einen Pfosten, es war ein helles, metallisches Geräusch. Wahrscheinlich war Chris auf die Insel geschwommen und hatte sich dort in den Schatten einer Palme gelegt und …

„Bist du verrückt!“, schrie ich.

Chris war unter dem Trampolin aufgetaucht und spritzte mich nass. Seine kalte, feuchte Hand griff nach meinem Fuß.

„Verrückt nach dir“, sagte er.

Ich sagte nichts, aber ich öffnete mein Bikinioberteil. Dann legte ich es ab, danach das Höschen und zuletzt das Geständnis, dass ich ihn immer noch liebte. Und dass ich ihn vermisst hätte in den letzten Wochen. 

Chris zog sich auf das Trampolin hoch und fiel keuchend und nass neben mir ins Netz. Dann zog er seine Badehose aus. Hier, mitten im Paradies, sechzig Kilometer vor dem Hafen von St. Barth, waren wir vollkommen ungestört.

„Ach Penny“, seufzte er und sah mich an.

Chris war im Sternzeichen Wassermann geboren, ich im Widder. Eine Wahrsagerin hatte uns vor Jahren auf einem Markt in Marokko eine ungewöhnlich glückliche Ehe prophezeit – und sie hatte recht behalten. Obwohl wir seit zehn Jahren verheiratet waren, brachte es mich immer noch aus dem Konzept, wenn er mich so ansah, als wäre ich eine Fremde. Seine Augen waren von einem hellen, intensiven Blau und wirkten wie zwei Fenster zum Himmel.

„Müssen wir da heute Abend wirklich hin?“, fragte ich.

„Huisman ist nicht irgendwer“, sagte er und begann, meine Schulter zu küssen. „Ihm gehört die halbe Insel.“

„Und wenn schon.“

„Du wirst ihn mögen“, versprach Chris und küsste meine Brüste. „Und seine Frau auch.“

Ich schloss meine Augen und flüsterte: „Kommst du zu Papas Geburtstag nach Hause?“

„Ach Penny“, sagte er wieder. Dann legte er sich auf mich und drang langsam in mich ein.

2

Um kurz nach acht saßen Chris und ich in einem der Hafen-Cafés von St. Barth und tranken einen Hibiscus zur Einstimmung auf den Abend. Der Hibiscus war damals der Kult-Cocktail auf St. Barth, eine Mischung aus Rum, Baileys, Kokos und Grapefruit. Chris und ich hielten uns an den Händen wie ein frisch verliebtes Pärchen. Gegenüber lagen die Millionärs-Yachten, ihre weißen, glatten Flächen ragten in den Abendhimmel. Die untergehende Sonne ließ sie glutrot aufleuchten.

Wenn heute die Sonne untergeht, schließe ich meine Augen und bete zu Gott.

„War das nicht eben Kate Moss?“, fragte ich.

Chris verdrehte die Augen. Die Diskretion gehöre zum Verhaltenskodex der wirklich reichen Leute hier, erklärte er mir. Da gehören wir ja zum Glück nicht dazu, erwiderte ich und lachte. Früher hätte Chris mit mir zusammen gelacht, an diesem Tag schwieg er. Mit Sorge beobachtete ich, wie er sich immer mehr am Lebensstil dieser Leute orientierte. Deshalb stand ich dem Abend auch skeptisch gegenüber.

„Da drüben liegt sie“, sagte er.

„Wer?“

„Die Yacht von Huisman.“ 

„Du meinst aber nicht die Sanlorenzo?“, fragte ich.

„Genau die.“ 

Yachten bedeuteten mir nichts, aber seit Chris zum Seemann geworden war,  wusste ich, was eine Sanlorenzo war. Die Schiffe wurden in Italien gebaut und waren so etwas wie die Ferraris unter den Yachten. Diese hier hatte eine elegante, aber geschlossene Form. Die Fenster waren Schlitze aus schwarzem, verspiegeltem Glas. Die niederländische Fahne war gehisst.

„Beeindruckend“, sagte ich und schnalzte mit der Zunge. 

Chris ließ meine Hand los. Etwas stimmte nicht mit ihm.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich.

Er gab keine Antwort. Stattdessen zündete er sich einen Zigarillo an und zog gierig daran. Damals fiel mir auf, dass die Hand, mit der er den Zigarillo hielt, leicht zitterte. Ich schüttelte stumm den Kopf, mehr brauchte es nicht, um meine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Chris’ Blick war stur in die untergehende Sonne gerichtet. Dass er zu viel rauchte, wusste er, und ich hatte es aufgegeben, ihn daran zu erinnern.

„Warum hat dieser Huisman uns eigentlich eingeladen?“, fragte ich. „Gibt es etwas Besonderes?“

„Er will dich kennenlernen.“

„Mich?“

„Er hat dich gesehen“, sagte Chris und starrte in den Himmel. „Letzten Sommer. Auf der Party von Álvarez.“ Dann öffnete er seinen Mund und ein dicker, gelblicher Rauch kroch hervor. Ansonsten bewegte sich sein Gesicht nicht, als er fragte: „War da was zwischen euch?“

„Bist du verrückt! Ich erinnere mich nicht mal an ihn.“ 

Die Partys von Álvarez waren legendär. Im vorherigen Sommer hatte er seinen sechzigsten Geburtstag mit einer Pyramide aus sechzig Flaschen Champagner gefeiert. Seine viel zu junge zweite oder dritte Ehefrau hatte in einem goldenen Bikini Happy Birthday gesungen. Daran erinnerte ich mich noch, aber an einen Niederländer nicht.

„Simon und Jasmin sind übrigens schon in Florida“, wechselte ich das Thema. „Er redet von nichts anderem.“

Chris nickte. Die Männer planten eine Atlantiküberquerung, Chris, Simon und noch zwei Kumpels. Vier Wochen später sollte es losgehen. Jasmin und ich würden zusammen zurückfliegen. Der Langstreckentörn war als eine Art Junggesellen-Abschied gedacht, weil Simon und Jasmin im September in Zürich heiraten würden.

„Hast du für die Hochzeit schon einen Flug gebucht?“ 

Chris schwieg.

„Du kommst doch?“

„Wann genau ist das im September?“, fragte er zurück.

„Der neunte Neunte.“ 

Wieder schwieg er. 

„Simon ist dein bester Freund“, setzte ich nach. „Das kannst du nicht bringen.“

Über uns kam Musik aus einem Lautsprecher. 

Als ich Chris vor über fünfzehn Jahren kennengelernt hatte, war Simon fast immer dabei gewesen. Die zwei waren schon zusammen zur Schule gegangen. Simon war der sensiblere der beiden, ein eher ruhiger, melancholischer Typ, der BWL studiert und eine Firma gegründet hatte. Die Turox 3000 spürte Trends und Produkte der Zukunft auf. Ein paar Jahre zuvor hatte Simon mit einer Mikro-Batterie viel Geld verdient – und seitdem lief es auch mit den Frauen besser. Jasmin sei endlich die Richtige, meinte er, und dass ich mir wegen Chris nicht so viele Sorgen machen solle: Chris befinde sich in einer Art Midlife-Crisis, alles halb so wild, ich bräuchte einfach nur Geduld zu haben, irgendwann komme er von allein wieder nach Hause.

Drei Jahre war Chris da schon unterwegs gewesen.

Ich sah ihn von der Seite an. 

Somebody that I used to know, sang eine Männerstimme.

Als wir uns kennenlernten, war ich gerade mal neunzehn gewesen und Chris unerreichbar. Ich hatte meine Ausbildung zur Flugbegleiterin eben erst begonnen, er war bereits Pilot gewesen und mit einer bildhübschen Frau verheiratet, die ihn manchmal vom Flughafen abholte. Anfangs hatte mich das abgeschreckt, ihre Küsse, ihr Lachen, und ich hatte nicht verstehen können, warum alle meine Kolleginnen trotzdem von Chris schwärmten. Okay, er hatte diese hellen, durchlässigen Augen und immer ein Kompliment auf den Lippen. Außerdem war er groß und seine schwarzen Locken waren im Kontrast zu den blauen Augen außergewöhnlich. Aber er war verheiratet, und ich wollte sein Leben nicht zerstören, das hatte ich ihm auch gesagt, damals, in unserer ersten Nacht in Paris, doch er hatte nur gelächelt: „Du zerstörst mein Leben nicht, Penny“, hatte er gesagt, „du rettest es.“ Acht Monate später heirateten wir in Las Vegas, es war eine total verrückte Zeit gewesen, in der es nur uns beide gab. Jetzt war Chris 47 und ich 34. Wenn wir noch ein Kind wollten, mussten wir uns langsam beeilen. 

„Simon hat einen Prototyp der Oxygenius dabei“, sagte ich. 

Die Oxygenius war eine innovative Atemmaske, die Sauerstoff aus dem Wasser filterte und zum Atmen bereitstellte. Das Ding war kaum größer als eine Banane. Chris und ich hatten vor, in das Produkt zu investieren, für das Simon fantastische Gewinne vorhersagte. Normalerweise begeisterte sich Chris für das Thema, doch jetzt zog er sein Smartphone hervor und checkte die Nachrichten. Am Nebentisch nahmen ein älterer Herr und eine junge Frau Platz. Er schwieg und sie lachte viel, ein ganz junges Ding, kam wahrscheinlich von einer der Inseln, Haiti oder Dominikanische Republik, schätzte ich.

„L’addition, s’il vous plaît“, sagte Chris.

Bereits damals, in unserer ersten Nacht in Paris, hatte Chris gesagt, dass er aussteigen wolle. Dass er sich eine Segelyacht kaufen und ein freies Leben führen wolle. Damals dachte ich: Das sind Träume. Wer verwirklicht die schon?

Die Frau blickte zu uns herüber.

An dem Deckenventilator fehlte ein Flügel.

Kurz vor seinem 43. Geburtstag hatte Chris sich das Boot dann gekauft. Der Katamaran war vierzehn Meter lang, acht Meter breit, und verfügte über 160 Quadratmeter Wohnfläche, 120 Quadratmeter Segelfläche, vier Kabinen und zwei 48-PS-Motoren. Der Vorbesitzer habe das Schiff Sky getauft, hatte Chris gesagt, was ich davon halte? Der Name gefiel mir. Aber es gefiel mir nicht, dass Chris mich vor dem Kauf nicht gefragt hatte. Er habe einfach Angst gehabt, ich könnte Nein sagen, meinte er. Und glauben müsste ich ihm, dass er mich liebe wie er noch nie eine Frau geliebt habe, aber trotzdem dürfe ich ihn nicht einsperren. Ich dürfe nicht von ihm verlangen, wie ein Schoßhündchen zu leben. 

„Bin gleich wieder da“, sagte er.

Ich achtete nicht darauf, als Chris den Tisch verließ.

Kurz nach seinem 44. Geburtstag ließ mein Mann sich frühpensionieren und segelte los. Seitdem lebte er hauptsächlich in der Karibik. Ab und zu nahm er Touristen auf einen Segeltörn mit und verdiente sich so etwas nebenher. Die Yacht zahlten wir noch immer ab, auch ein Teil meines Gehalts ging dafür drauf.

„Hasta pronto”, hörte ich eine hohe, etwas unangenehme Stimme. Sie kam von der Frau am Nebentisch. Wie ich vermutet hatte, sprach sie spanisch. Sie gab dem Mann, einem Franzosen, schätzte ich, einen Kuss auf die Glatze und verließ das Café. Mein Blick fiel auf ihre hohen Pumps. Sie waren aus weißem Kunstleder mit Tigermuster. Als ich wieder aufsah, starrte mich der Mann an. Seine Augen waren klein und verrieten keine Regung.

Ich wendete mich ab. 

Und schüttelte den Kopf.

Okay, ich war ebenfalls jünger als Chris, ganze zwölf Jahre, und Sandra sagte, ich hätte ihn nur geheiratet, weil er unserem Vater so ähnlich sähe. Vielleicht stimmte das sogar. Und ja, Chris hatte sich wegen mir scheiden lassen, aber trotzdem war ich nie so gewesen wie diese Mädchen, die nichts hatten außer einer guten Figur und der Hoffnung, von einem Europäer oder Amerikaner geheiratet zu werden. Ich liebte Chris nicht wegen seines Geldes. Ich hatte selbst einen Beruf und außerdem ein Haus am Bodensee mit einem zauberhaften Garten, der von griechischen Göttern und Halbgöttern besiedelt war, die meine Mutter gesammelt hatte. Für mich war immer klar gewesen, dass Chris und ich eines Tages dort zusammen alt werden würden.

Ob mein Mann schon bezahlt habe, fragte ich.

Der Kellner, der aussah wie Captain Jack Sparrow, nickte.

Draußen stand Chris und rauchte. Das Mädchen stand neben ihm und tat dasselbe. Als ich kam, warf sie ihre Zigarette auf den Boden und ging zurück ins Café. Ich bemerkte die Schweißperlen auf Chris’ Stirn.

„Kennst du sie?“, fragte ich.

„Nur flüchtig“, sagte er. Und dann: „Wir müssen.“

Mein Vater und meine Freundinnen glaubten, Chris befinde sich beruflich in der Karibik. Sie glaubten, er baue dort eine Schule für junge Piloten. Wenn mein Vater mich fragte, wann Chris denn zurückkomme, sagte ich, bald. In Wahrheit hatte ich Chris nie gefragt, wie lange er vorhatte, auf dem Schiff zu leben. Ich hatte Angst, dass er mir antworten könnte, es sei für immer.

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AUSERWÄHLT

VIGILATE  ITAQUE!

QUIA NESCITIS DIEM NEQUE HORAM.

Darum wachet!

Denn ihr wisset weder Tag noch Stunde.

Matthäusevangelium 25, 13

                                   

1

„Das ist Wahnsinn.“ Helga Kramer war außer sich. Sie konnte den Blick nicht von der Bühne wenden, auf der eben noch das kleine Mädchen gestanden hatte. Ihre Augen leuchteten: „Wahnsinn“, wiederholte sie.

„Sie ist gut“, pflichtete Erika Lechmeier bei, die Direktorin des renommierten Internats Schloss Knauthain, und entfernte einen Fussel von ihrem Kleid. Helga war Musiklehrerin und verfügte über eine schwärmerische Natur; sie selbst hatte Physik studiert. 

„Sehr gut“, korrigierte die Direktorin ihr Urteil und machte ein Häkchen hinter den Namen des Kindes. „Mehr als zehn Plätze können wir aber nicht vergeben. Hinter Sabrina Solowjow und Magdalena Baumgartner habe ich ein Fragezeichen notiert. Wenn wir Greta Hauser nehmen, müssen wir eine der beiden wieder ...“

„Habt ihr das nicht gehört?“ Helga Kramer hatte schlanke, schöne Finger, die sich zu einem Trichter formten. „Ich habe diese Sonatine von Franz Schubert noch nie so“ – ihre   Hände griffen nach oben, als suchte sie nach dem passenden Wort –: „noch nie so rein gehört.“ Sie sprang auf. „Die Intonation war makellos“, fuhr sie fort, „und dazu dieses gesangliche Legato, die gestochen scharfen Staccato-Achtel im Menuett und die gleichmäßigen Triolenketten im letzten Satz.“ Sie wiegte den Kopf hin und her. „Aber es geht mir nicht allein um eine solide technische Basis.“ Helga Kramer setzte sich wieder und blickte ihre Kollegen der Reihe nach an: „Habt ihr das sehnsuchtsvolle Drängen gehört? Die musikalische Sensibilität? Sogar den tragischen Charakter des Stückes hat das Kind erfasst, und alles so ungezwungen.“ Wieder schraubten sich ihre Hände in die Luft. „Das Mädchen wird es weit bringen, sage ich euch, sehr weit!“

Sie schien erschöpft.

„Also steht unser Urteil“, fasste Erika Lechmeier das Gesagte zusammen. „Wir nehmen sie.“

Die Direktorin lehnte sich zurück und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen. Vor drei Jahren war das alte Renaissance-Theater restauriert worden und erinnerte seitdem, niemand wusste genau warum, an die Sixtinische Kapelle in Rom. Mit interessierten Eltern kam sie immer zuerst hier her, da die humanistische Bildung, die auf ihre Kinder wartete, an diesem Ort spürbar wurde, fand sie.

„Norbert?“ Helga Kramer wandte sich an den Mann mit der Glatze. Norbert Lechmeier hatte Germanistik studiert und stand der Kunst näher als seine Frau Erika. „Was denkst du über das Mädchen?“

Er hatte schwere Augenlider und üppige Lippen, die er nach jedem Satz mit seiner Zunge befeuchtete.

„Sie ist ein echtes Ausnahmetalent“, attestierte er. „Du hast recht, Helga. Greta Hauser, den Namen sollte man sich merken.“

„Findest du?“ Ihr Lachen war hell und klar. Flüchtig fasste sie sich an die Halskette.

„Sie hat mich in den Bann gezogen“, bestätigte er. Seine Zunge fuhr heraus.

„Das war Wahnsinn, oder?“

„Sie hat Magie.“

„Magie! Das ist es.“

„Also nehmen wir sie.“ Erika Lechmeier blickte ihren Mann vielsagend an. „Jetzt ist also nur noch die Frage, ob wir Sabrina Solowjow oder Magdalena Baumgartner rausstreichen. Das entscheidest du, Helga.“

Helga Kramer blinzelte, als sei sie aus einem Traum erwacht. „Ich kann das nicht, wirklich. All die enttäuschten Kindergesichter, Gütiger, da zerplatzen Lebensträume, ich kann so etwas nicht.“

Die Lechmeier wartete.

„Die Solowjow“, sagte Helga Kramer schließlich und zuckte mit den Schultern. „Ihr fehlt ohnehin die Ausstrahlung. Sie wird es nie weit bringen.“

Es war ein langer Tag gewesen. Erika Lechmeier stand in der Tür und blickte sich nach ihrem Mann um. „Kommst du?“, fragte sie. „Gleich“, antwortete er und checkte sein Handy.

Eine Woche hatten die Aufnahmeprüfungen für das nächste Schuljahr im Internat Schloss Knauthain gedauert, heute war Freitag. Nach den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern bildete die Musik traditionsgemäß den krönenden Abschluss, zumindest sah Helga Kramer das so, und auch dieses Jahr war sie nicht enttäuscht worden. Aus 164 Bewerbungen – allein für den musischen Bereich – hatten sie 20 Kinder ausgewählt und zum Vortrag eingeladen, die meisten hatten Klavier gespielt, gefolgt von Geige und Querflöte, alle mit guten und teilweise beachtlichen Erfolgen, doch das Mädchen, das zuletzt vorgetragen hatte, war etwas ganz Besonderes.

„Ich bin noch immer ganz baff.“ Helga lächelte Norbert zu. Die beiden waren jetzt allein.

Norbert legte sein Handy weg, als habe er auf diesen Moment gewartet. „Hast du eigentlich mit Moni und Hubert noch Kontakt?“

„Hin und wieder.“ Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Es ist und bleibt eine Tragödie.“

Draußen waren Stimmen zu hören. Norbert zögerte. Er sah sie an, jemand polterte gegen die Tür. Dann packte er seine Sachen und wandte sich ebenfalls zum Gehen.

„Aber was ich fragen wollte“, hielt sie ihn zurück. „Fährst du nachher am Bahnhof vorbei? Oder ist Erika ...“

„Ich kann dich mitnehmen, wenn du das meinst.“

„Danke“, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Kurz nach sechs geht mein Zug.“

„Nach Berlin?“

Sie nickte. „Zu Charlotte.“

„Tja dann.“ Er trat auf der Stelle. „Sie hat das Kind bekommen, nicht?“

Sie bedeuteten ihm, zu warten, während sie in ihrer Handtasche nach etwas suchte. Die Tasche hatte goldene Griffe, sie passte nicht zu Helga, fand Norbert.

Helga hielt ein Foto hoch. „Es ist ein Junge.“

„Goldig“, nickte er und stemmte seine Aktentasche auf den Tisch. Sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung, als seien Steine drin.

„Ich muss noch mal ins Büro“, sagte er mit feucht glänzenden Lippen. „In einer halben Stunde fahren wir, okay?“

„In einer halben Stunde“, bestätigte Helga, legte das Foto zurück und nahm ihren Laptop heraus. „Ich warte solange hier.“

Wie früher, als sie noch regelmäßig auf der Bühne stand, genoss Helga Kramer die Stille, nachdem alles vorbei war. Erst nach einem Konzert wurde der Saal zu einem wahrhaft magischen Ort, zu einer Lichtung im Mondschein, in der man nach wochenlanger Anspannung endlich zur Ruhe kam.

Helga Kramer klappte den Laptop auf. Sie war heute Morgen nicht mehr dazu gekommen, ihre E-Mails abzurufen. Sie öffnete das Programm, wartete und überflog die Absender der eingegangenen E-Mails: Charlotte hatte ein neues Bild von dem Kleinen geschickt und Frau Klinger, die Schulsekretärin, bat erneut um die Abschlussberichte. Sonst gab es nichts Wichtiges, nur Werbung und ein paar Newsletter; gedankenverloren klickte sie auf eine Einladung in die Philharmonie Berlin und löschte sie wieder, nachdem sie nicht richtig angezeigt werden konnte.

Von draußen drangen Stimmen herein, sie wurden lauter und entfernten sich wieder. Sie hörte die Putzfrau mit dem Staubsauger den Gang hoch und runter fahren. Auf der Bühne stand noch immer der Notenständer, eingestellt auf ein Kind mit einer Körpergröße von einem Meter sechsundvierzig.

Die Mutter von Greta Hauser war Italienerin und hatte in Mailand Gesang studiert. Dann hatte sie einen Deutschen geheiratet, der in München Filmmusik machte. Wie bei vielen frühreifen Kindern waren die Eltern also vom Fach, auch Helgas Vater war ja Klavierlehrer gewesen, doch entgegen der landläufigen Meinung wurde gerade diesen Kindern nichts geschenkt. Sie schloss das E-Mail-Programm und suchte in ihren Dokumenten nach dem Lebenslauf des Mädchens, der ihr als pdf-Dokument vorlag. Sie hatte ihn schon einmal gelesen, doch jetzt, nachdem sie das Kind gehört hatte, besaß alles eine andere, tiefere Bedeutung. Abermals las sie mit wachsendem Interesse, wie das Mädchen bereits mit fünf Jahren –

Bitte nein, lass das nicht wahr sein.

Die Stimme in ihrem Kopf klang fremd, doch Helga Kramer wusste, dass es ihre eigene war. Regungslos starrte sie auf den Bildschirm. Alles war rot. Der Bildschirm war rot geworden.

Nicht schon wieder.

Rot. Es war dasselbe Rot und in der Mitte standen die Worte: „ICH BIN AUSERWÄHLT.“

Nein.

Ihr Atem ging schnell, zu schnell. Ihre Hand begann zu zittern. Sie versuchte, den Laptopdeckel zu schließen, doch ihre Hand verkrampfte, verdrehte sich wie eine abgestorbene Wurzel. Es ging nicht. Allein der Gedanke, die rote Seite zu berühren, verursachte ihr Ekel. Helga Kramer sprang auf und öffnete ein Fenster. Sie brauchte frische Luft.

Ein kleines Mädchen stand unten im Pausenhof und starrte sie an. Ihr Gesicht war eine vor Wut verzerrte Fratze. Schnell wich Helga zurück. Ihr Herz raste. Mit zittrigen Fingern suchte sie in ihrer Handtasche nach den Zigaretten für den Notfall. Als sie wieder ans Fenster trat, war das Mädchen verschwunden.

Die Woche war anstrengend, atme ruhig und gleichmäßig, es kann dir nichts passieren, redete sie sich ein.

Helga Kramer zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schloss die Augen. Das muss nichts zu bedeuten haben. Es könnte einfach nur Werbung sein, die sich plötzlich geöffnet hatte, die Methoden der Internetwerbung wurden ja immer penetranter, wahrscheinlich wäre sie auf die Seite irgendeines Autohändlers oder Erotikladens weitergeleitet worden, wenn sie auf die Schrift geklickt hätte.

Eine gottverdammte Werbung! Das war eine Erklärung.

Doch Helga Kramer wusste, dass es nicht so war. Vor vier Wochen hatte sie in dem Bildband über Italien, der seit Monaten neben ihrem Bett lag, einen roten Zettel mit der Aufschrift gefunden: „ICH BIN AUSERWÄHLT.“ Zehn Tage später lag in ihrem Architekturlexikon ein roter Zettel mit der Aufschrift: „ICH BIN AUSERWÄHLT.“

Und jetzt das: dasselbe Rot, dieselbe Schrift, dieselbe Botschaft.

Sie musste Christine anrufen. Christine hatte sie damit zu beruhigen versucht, dass in Helgas Wohnung die Schüler ein und aus gingen. Wahrscheinlich habe sich einer von ihnen einen Scherz erlaubt und würde sie bald grinsend fragen, ob sie die Nachrichten gefunden habe. Es war einfach ein dummer Schülerstreich, hatte Christine gesagt und Helga damit nach und nach überzeugen können. 

Sie inhalierte den Rauch ihrer Zigarette und schnippte die Asche aus dem Fenster. Der Pausenhof war leer. Ich bin auserwählt. Jetzt war er also bis in ihren Computer vorgedrungen, rot, leuchtend, irreal.

Bereits vor sechs Wochen hatte jemand versucht, in ihre Wohnung einzubrechen. Als sie nach Hause kam, stand die Wohnungstür halb offen, doch es hatte nichts gefehlt. Zuerst hatte die Polizei angenommen, dass die Einbrecher wahrscheinlich gestört worden seien und ihren Plan nicht verwirklichen konnten. Doch dann hatten sie keine Spuren gefunden, keine Fingerabdrücke, kein gewaltsames Öffnen des Schlosses, nichts. In ihrer Wohnung hatte nichts gefehlt. Alles war wie immer gewesen. Bis auf die roten Zettel.

Das bildest du dir nur ein.

Helga Kramer warf die Zigarette hinaus. Und wenn es stimmte? Wenn sie sich das alles nur einbildete? Wenn sie selbst vergessen hatte, die Tür zuzuziehen?

Ich bin auserwählt. Christine hatte ja nicht ganz unrecht, es war möglich, dass einem ihrer Schüler die Hochbegabung zu Kopf gestiegen war. Möglich war es. Schließlich waren einige ihrer „Kinder“ schon 18 Jahre und kannten sich mit Computern besser aus als sie. Doch etwas in Helga Kramer sagte ihr, dass es nicht so war. Denn ihre Schüler waren etwas Besonderes, sie waren auserwählt worden, ihnen stand eine große Zukunft bevor. Doch diese Botschaften stammten von einem gescheiterten Geist; das fühlte sie mit der instinktiven Sicherheit, mit der ein Alkoholiker den anderen erkannte.

„Was ist?“ Norbert starrte sie an. Sie hatte ihn nicht kommen hören. „Hast du etwa hier drin geraucht?“

„Es war ein langer Tag.“ Helga Kramer löste sich vom Fenster, ging zum Tisch und begann, das Netzteil ihres Computers aufzuwickeln. Sie wies auf den Rechner. „Und dann hab ich mir auch noch irgendeinen blöden Virus eingefangen, wahrscheinlich per Mail.“

„Soll ich mal?“

„Vielleicht halb so schlimm.“ Sie nahm den Computer, bevor Norbert danach greifen konnte, und verstaute ihn vorne im Koffer. Dann blickte sie auf die Uhr und sagte: „Ich fürchte, wir müssen.“

„Du solltest mal dein Sicherheitsprogramm überprüfen. Ich kümmere mich am Montag darum.“

Helga Kramer bahnte sich einen Weg durch die Masse, vorbei an den hell erleuchteten Schaufenstern des Leipziger Hauptbahnhofs. Zum dunklen Hosenanzug trug sie eine weiße Bluse, im Gesicht die Anspannung des Tages. Plötzlich blieb sie stehen. Suchend hob sie den Kopf, richtete den Blick nach oben zu den Menschen, die am Geländer standen, doch sie erkannte nichts. Wo bist du? Der Lautsprecher kündigte die Einfahrt des ICE nach Berlin an. Sie nahm die Rolltreppe und begab sich auf Gleis 11.

In den Spiegeln des einfahrenden Zuges sah sie eine Frau, deren Haare grau geworden waren.

„Entschuldigung.“ Im Gang trat sie beiseite, um einem Mann im Anzug Platz zu machen. Dann zog sie, getrieben von innerer Unruhe, den Laptop heraus, verstaute ihren Koffer und registrierte zu ihrer Erleichterung, dass niemand außer ihr in der 4er-Sitzgruppe reserviert hatte. Sie hatte den Tisch für sich allein. Sie öffnete den Laptop, drückte den Startknopf und starrte erwartungsvoll auf den Bildschirm. Nach einem kurzen Flackern erschien das pdf-Dokument mit dem Lebenslauf von Greta Hauser. Sonst nichts. Der ICE fuhr an. Da ist nichts. Sie schloss die Augen.

„Aber Herzchen, ich bin doch immer für dich da!“ Der Mann am Nebentisch telefonierte. „Was meinst du denn, wie frustrierend das Ganze erst für mich ist.“

Genervt setzte sich Helga Kramer auf. Herzchen! Die Rücksichtslosigkeit, mit der dieser Bürohengst seine Eheprobleme breit trat, ärgerte sie ebenso wie der Umstand, dass sie selbst keinen Empfang hatte. Sie drückte auf ihrem Handy herum, als würde das etwas nützen. Sie schloss das pdf-Dokument und fuhr den Computer ordnungsgemäß herunter. Bevor Norbert ihr kein neues Anti-Viren-Programm installiert hatte, würde sie den Laptop nicht mehr anfassen.

Sie musste Christine anrufen!

Um sich abzulenken, nahm sie das Buch aus der Tasche, schüttelte es kopfüber und ließ die Seiten wie im Daumenkino durch ihre Finger gleiten. Nichts fiel heraus. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Die automatische Schiebetür öffnete sich, der ICE beschleunigte. Zwei große, dunkle Augen blickten sie an. Es waren die Augen von Clara Schumann. Sie hatte die Biografie schon vor einem halben Jahr gekauft, doch bis heute war sie nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Mit einer zärtlichen Geste fuhr sie über das Cover. Schon immer hatte sich Helga dieser Frau nahe gefühlt, deren Leben als gefeiertes Wunderkind begann und in einem langen Prozess der Desillusionierung endete. Die automatische Schiebetür schloss sich wieder. Draußen flog ein abgeerntetes Feld vorüber, dabei war es erst Anfang Juli. Ohne die Last ihres geisteskranken Mannes wäre Clara Schumann selbst als eine der größten Komponistinnen in die Musikgeschichte eingegangen. Das glaubte Helga Kramer. Doch dass sie in späten Jahren eine grausame Lehrerin gewesen sein soll, die ihre Schüler gequält habe, das glaubte sie nicht.

Sie begann zu lesen. Nur noch beiläufig registrierte sie das Rattern der Räder, den Zwischenstopp in Wittenberg, die Geräusche der Menschen, die vorübergingen, ihr Husten und Lachen. Als sie das Buch wieder zur Seite legte, waren es noch zwanzig Minuten bis Berlin. Sie nahm ihre Handtasche, warf dem Mann am Nebentisch einen flüchtigen Blick zu und ging auf die Toilette.

ICH BIN AUSERWÄHLT. Sie versuchte, die Augen zu schließen, doch es war zu spät. Das Rot war bereits in sie eingedrungen. In ihren Kopf, in ihren Körper, in ihre Welt. Unmittelbar setzten die bekannten Symptome ein: Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel. Sie setzte sich und wartete, bis das Schlimmste vorüber war.

Das kann doch einfach nicht wahr sein.

Als sie von der Toilette zurückgekommen war und das Buch einpacken wollte, war der Zettel herausgefallen. Jetzt lag er auf dem Tisch. Rot und länglich bewegte er sich im Schwanken des Zuges hin und her. Helga Kramer drehte sich angewidert weg, als sie eine rote Schlange auf dem Tisch sah, die auf sie zu kroch. Sie schloss die Augen, doch sofort blitzten noch schrecklichere Bilder auf: das Zucken einer abgeschnittenen, menschlichen Zunge, der Todeskampf eines blutigen Fisches.

Deine Fantasie spielt dir einen Streich. Jetzt war sie sich sicher.

Sie öffnete die Augen und konzentrierte sich auf den Mann am Nebentisch, der an seinem Laptop arbeitete. Sein nichtssagendes Äußeres beruhigte sie. Er sah kurz auf, als er ihren Blick spürte, freundlich desinteressiert, und arbeitete dann weiter. Helga Kramer blickte den Gang hinab. Zwei ältere Damen saßen weiter hinten. Ein Pärchen hatte es sich in einem Abteil bequem gemacht. Sie konnte ihre Gesichter erkennen, klar und deutlich. Das war ein gutes Zeichen. Sie wusste, wie man am besten mit Panikattacken umging. Sie wusste, dass es nur eine Überreaktion ihres Körpers war obwohl keine Gefahr vorlag, doch sie konnte nichts dagegen tun. Wenn sie einen dieser Zettel fand, sah sie buchstäblich rot.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und stand auf. Mit spitzen Fingern beförderte sie den Zettel in die Klappe mit dem Papiermüll, wusch sich die Hände und desinfizierte sie mit dem Gel, das sie immer bei sich trug.

„Christine?“, rief sie lauter in das Handy, als nötig gewesen wäre. Helga Kramer stand im Gang neben der Toilette und behielt ihren Platz im Auge. Der graue Schlauch, eine riesige Ziehharmonika, welche die beiden Zugteile miteinander verband, wand sich wie unter Schmerzen, während der Zug auf Berlin zuraste.

„Was ist passiert?“, fragte Christine, die sofort wusste, dass ihre Freundin in Panik war. In letzter Zeit häuften sich diese Zustände.

„Ich hab schon wieder so einen Zettel gefunden, zuerst im Computer, jetzt im Buch.“ 

„Wie, im Computer?“

„In meinem Laptop. Plötzlich war der ganze Bildschirm rot. Ich weiß nicht, wie er da reinkam, vielleicht ein Virus oder über eine Mail.“

Christine räusperte sich, dann fragte sie vorsichtig: „Okay, und jetzt hörst du wieder diese Stimmen?“

„Bitte, Christine, ich höre keine Stimme, ich habe den Zettel gesehen!“

Tatsächlich hatte Helga Kramer auch einmal Stimmen gehört, sie lag im Bett und war bereits halb eingeschlafen, als plötzlich jemand aus dem Schrank flüsterte: „Ich bin auserwählt.“ Doch sie wusste selbst, dass sie sich das eingebildet hatte. Ihre Nerven waren an dem Abend überreizt gewesen. Sie hätte es Christine nicht erzählen dürfen.

„Wieder dieselbe Botschaft?“

„Ja, verdammt, er muss irgendwie meine E-Mail-Adresse rausgekriegt haben. Du musst mir helfen, Christine.“

„Wo bist du jetzt?“

„Im ICE, kurz vor Berlin.“

Helga behielt ihren Platz im Auge.

Christine räusperte sich. „Okay, wenn ich dir helfen soll, musst du dich beruhigen. Hörst du mich, Helga?“

„Ja.“

„Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass das nach Gregor klingt.“ Helga konnte hören, dass Christine das längst bereute.

„Aber Gregor ist tot. Wir waren beide bei seiner Beerdigung. Wir haben gesehen, wie die Urne in der Erde verschwand.“

Stille. Helga Kramer lehnte mit geschlossenen Augen neben der Toilettentür und fühlte das Rattern der Räder.

„Du kannst natürlich zur Polizei gehen, wenn es dir hilft“, hörte sie ihre Freundin wieder, „aber die werden dich für verrückt erklären.“

„Das ist ein blöder Schülerstreich, Helga“, sagte Christine. „Aber ich finde auch, dass es langsam zu weit geht. Wir sollten mal mit ein paar Schülern sprechen, ich denke vor allem an Felix aus der 10a.“

„Danke“, sagte Helga. Sie wusste ja selbst, wie verrückt ihr Verdacht klang. Gregor war tot. Gregor schickte ihr keine Nachrichten mehr. Gregor war mit 2,8 Promille und einem Jaguar in den Abgrund gestürzt. Sein Körper war Matsch. Kohle. Asche.

Achtzehn Knochenbrüche, eine Schädelfraktur und ein gebrochenes Nasenbein, bevor er im Auto verbrannte.

Helga erinnerte sich noch genau an das betrübte, mitfühlende Gesicht des Arztes, der ihr das gesagt und nicht geahnt hatte, dass die Worte Balsam auf ihrer Seele waren. Sie lächelte bei dem Gedanken.

„Danke.“ Helga verabschiedete sich und versprach, Christine später noch einmal anzurufen. Als sie auflegte, fühlte sich ihr Puls wieder fast normal an. Alles wäre gut gewesen, wenn sie in diesem Moment nicht die Augen geöffnet hätte. Da war jemand an ihrem Platz. Der Mann beugte sich gerade über ihre Handtasche.

„Was machen Sie da?“ Ihre Stimme klang schrill, die Leute blickten auf.

„Ich, ich wollte nur“, stammelte der Mann. Er trug eine graue Latzhose, in der einen Hand hielt er einen großen Sack, in der anderen den leeren Kaffeebecher, der auf ihrem Tisch gestanden hatte.

„Entschuldigung“, sagte sie und hielt sich an einer Rückenlehne fest, als der Zug ins Schwanken geriet.

Entschuldigung, ich werde verrückt.

Die beiden älteren Damen schüttelten den Kopf über den Mann von der Reinigungsfirma, das junge Pärchen über Helga.

Um 19 Uhr 7 stieg Helga Kramer in Berlin Südkreuz aus. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen zwischen die niedrigen Betondecken des Bahnhofs. Auf der Rolltreppe blickte sie sich noch einmal um, nahm dann den Ausgang in Richtung Hildegard-Knef-Platz und ging an den wartenden Taxen vorüber. Draußen war es noch warm. Sie durfte Charlotte und das Baby nicht unnötig belasten. Ein bisschen Bewegung würde ihr guttun, sie würde die Strecke bis zur Wohnung ihrer Tochter zu Fuß gehen.

2

„Zwei Jogger haben die Leiche gefunden“, sagte Margot Kranich und deutete auf die beiden Männer, die mit einem dampfenden Becher in der Hand im Polizeiwagen saßen.

Clara Schwarzenbach nickte. Sie kannte den Steglitzer Stadtpark, der für Berliner Verhältnisse als relativ sicher galt. Kaum Überfälle, kaum Körperverletzungen. Und jetzt das.

Im Gras lag eine tote Frau, daneben ein blutverschmierter Ast, ein durchwühlter Reisekoffer.

„Sieht aus wie ein Raubüberfall“, stellte Margot fest. Clara nickte wieder.

Die Tote lag auf dem Rücken. Man hätte denken können, sie schlafe nur, wenn da nicht ihre Augen gewesen wären: Große, schwarze Augen starrten in den Himmel.

Clara sah direkt hinein. Manche Kollegen sagten, tote Augen sähen immer schrecklich aus, egal ob ein Krebsgeschwür, Altersschwäche oder ein Kapitalverbrechen sie verursacht hätten. Doch das stimmte nicht. Die Augen von Ermordeten hatten schreckliche Dinge mitansehen müssen, bevor sie für immer erloschen. Die grauenvollen Bilder waren regelrecht in sie eingebrannt.

Seit zwei Jahren arbeitete Clara nun am Landeskriminalamt in Berlin in der Keithstraße, in der Abteilung für Delikte am Menschen, wie es offiziell hieß. Seit zwei Jahren wünschte sie sich ein Gerät, mit dem man die Bilder der Toten abspulen konnte.

„Eine schöne Frau“, sagte Clara.

Margot sagte nichts.

Leseproben: Meine Arbeit
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